Es
war der zweite Freitag im Monat - Stammtisch-Tag.
Normalerweise
treffen wir uns in einer kleinen, gemütlichen Kneipe in Köln-Deutz mit
unbezahlbarem Blick auf das Köln-Panorama. Heute hatten die Wirtsleute aber
eine "geschlossene Gesellschaft", so dass
wir in eine andere Kneipe ausweichen mussten. Die Wahl fiel auf "Früh em
Veedel" - allein schon wegen des Bieres.
So
machten meine Frau und ich uns auf den Weg zum Chlodwigplatz. Um zu Fuß
zu gehen, was sich normalerweise anbot, denn der Weg war so weit nun
auch wieder nicht, war es etwas zu spät geworden. Also, mit dem Bus zum
Chlodwigplatz. Der Bus hatte natürlich Verspätung! Oder war der
vorherige nur zu früh? Wer weiß das schon? Vor allem in Köln.
Jedenfalls standen einige Fahrgäste mit uns an der Haltestelle und
warteten. Endlich kam der Bus. Da wir bereits im Besitz einer Fahrkarte
waren, stiegen wir hinten ein. Vorne drängelte sich mal wieder alles.
Im Bus hielt ich Ausschau nach der Entwertungsmaschine. Meine Frau nahm
Platz.
Entwerten
muss sein, sonst fährt man schwarz. Wer beim Schwarzfahren erwischt wird, darf
ein "erhöhtes Beförderungsentgelt" von 60.- DM zahlen und wird zu
allem Überfluss auch noch angezeigt. Vom Ärger mit den Heinis von der KVB mal
ganz abgesehen, kann man sich auch des Spotts seiner Mitmenschen sicher sein.
Nein, das wollte ich nicht. Also, wo ist dieser blöde Entwertungsautomat? Na
klar, beim vorderen Einstieg. Wo auch sonst? Also durch den langen Bus nach
vorne.
Auf
meinem Weg dorthin kam eine junge Frau auf mich zu. Was ich zuerst bemerkte war,
dass sie sehr ernst drein schaute. Ansonsten war sie Mitte Zwanzig, schwarzhaarig und
sah gar nicht übel aus. Na, was man als Mann so alles sieht!!!
Leider
wollte die junge Frau partout durch mich durchlaufen, und ich sah, als der
wesentlich ältere, nicht unbedingt ein, Platz zu machen. So kam es, wie es
kommen musste. Sie rempelte mich an. Umgekehrt kann es natürlich auch gewesen
sein. Ein "Das darf doch nicht wahr sein" entfuhr mir. Die junge Frau
ging weiter.
Im
Bruchteil der nächsten Sekunde erfuhr ich, warum die junge Frau so ernst
dreinschaute. Denn hinter ihr kam etwas, das mehr einem Mülleimer als einem
Menschen ähnelte. Die Haare wild auf dem Kopf, die Kleidung hatte zuletzt
bessere Tage gesehen, als sie noch im Laden hing, das Gesicht über und über
mit Schorf bedeckt. "Krätze", durchfuhr es mich schlagartig und bevor
ich mich ekeln konnte, schrie das Gesicht mich an: "Wat darf he nit wohr
sin?" (Für nicht Rheinländer: "Was darf
hier nicht wahr sein?")
Breitestes
Kölsch schlug mir hasserfüllt entgegen. Himmel, der Mülleimer kann sprechen -
und wie! Ich liebe Köln und "uns kölsche Sproch". Aber auch hier
gibt es, wie im richtigen Leben, Unterschiede.
"Do
kanns e paar en de Fress han," ging es weiter. "Su en Lück wie Dich
han ich jän. Rempelt he ming Frau an un rieß d'r Bagger op. Pass bloß op un
mach ming Frau nit an!"
(Du kannst ein paar auf das Maul haben. Solche wie
Dich habe ich gern. Rempelt meine Frau an und reißt das Maul auf. Pass bloß
auf und mach meine Frau nicht an!")
Jetzt
wusste ich, was das Leben so lebenswert macht. Die geistigen Tiefflieger, die
unaufgefordert zur Unterhaltung der Allgemeinheit beitragen. Der Mülleimer
schaute mich hasserfüllt und drohend an. Dass ich hier geduzt wurde, ist in
Ordnung. Wir in Köln duzen schließlich Gott und die Welt.
Inzwischen
war ich an der Entwertungsmaschine angekommen und stempelte meinen Fahrschein
zweimal: Einmal für meine Frau und einmal für mich. Der Mülleimer sonderte weiter unaufgefordert geistigen
Müll ab. Ich
verstand immer nur "Prügel" und "Fresse". Der Mann, der
neben mir stand, raunte mir zu: "Am besten sind Sie ganz ruhig!" Ein
gutgemeinter Rat, denn wenn ich jetzt irgendeine Bemerkung gemacht hätte, wäre
der Mülleimer vollends ausgerastet. Um mich herum betretenes Schweigen. Jeder
war mit sich selbst beschäftigt.
Die
junge Frau hatte längst Platz genommen, der Mülleimer jedoch stand weiterhin
mitten im Gang und produzierte sich. Eigentlich war es zu schön. Da stand
jemand im Bus und bewies der ganzen Welt voller Inbrunst, wie bescheuert er ist.
Er muss sich wer weiß wie vorgekommen sein.
Ich war also auf
dem Weg zurück zu meinen Platz. Da nahm der Bus eine scharfe Rechtskurve. Um
nicht umzufallen, blieb ich mitten im Gehen stehen und hielt mich fest. Der Mülleimer
legte dies wohl als Feigheit aus, denn seine Stimme wurde noch ein wenig
schriller und unangenehmer als sie ohnehin schon war:
"Ich
warne Dich, dat kann och ens anders usjon!"
("Ich warne Dich, das kann auch mal anders ausgehen!")
Ich
konnte ein Grinsen nicht verbergen. Das merkte auch der Mülleimer und er wurde
fast wahnsinnig. Nun ist ein Mülleimer schon kein erfreulicher Anblick, ein
wahnsinniger Mülleimer aber setzt allem die Krone auf. Seine Stimme wurde
wieder um einige Nuancen schriller. Der drohende Unterton verstärkte sich. Die
Show war perfekt.
Meine
Frau saß in der Bank hinter ihm. Langsam, im fahrenden Bus geht das wohl auch
nicht anders, kam ich ihm näher. Ich musste an ihm vorbei, es sei denn, er zog
es vor, sich neben seine Begleiterin hinten im Bus zu setzen. Das tat er nicht.
Ich war jetzt ganz nahe bei ihm. Der Schorf in seinem Gesicht sprang mich an.
Wenn er sprach, sah er nicht nur aus wie ein Mülleimer, er roch auch so. Die
Augen versprühten Mordlust. Sämtliche Gedanken waren aus meinem Kopf
verschwunden. Ich sah das Mülleimer-Gesicht, roch den Mülleimer-Gestank aus
seinem aufgerissenem Mülleimer-Maul und wusste: Jetzt muss es sein!
Eigentlich
bin ich ein friedlicher, besonnener und latent liberaler Mensch. Meine letzte
Keilerei hatte ich als zwölfjähriger. Meine Frau streitet sich ständig mit
mir, weil sie behauptet, ich hielte immer nur mit anderen Leuten. Dabei höre
ich jedem zu und wäge die Argumente ab. Ich lasse jedem seine Meinung, auch
wenn ich sie als falsch ansehe. Schließlich ist meine Meinung auch nur eine
Meinung. Und seine Meinung sagen, das muss man doch dürfen. Sonst brauchen wir
nicht miteinander zu reden. Recht haben kann nicht jeder zu jeder Zeit. Das soll
uns aber nicht abhalten, miteinander zu reden.
Die
Umstände jetzt waren so: Da war der Mülleimer, der mich anödete und Drohungen
ausstieß. Ich mochte den Mann nicht. Meine latente Liberalität war temporär
verschwunden. Ich sah seine Augen, den Schorf in seinem Gesicht und roch seinen
Atem. Drei Dinge, die mich aufregten.
Wie
ferngesteuert - ich kannte mich selbst nicht mehr - rammte ich ihm meine Faust
mitten ins Gesicht. Mitten auf die Zwölf!. Mit erstauntem Blick stöhnte er
auf. Mit allem schien er gerechnet zu haben, nur damit nicht. Ungläubig
schmeckte er das Blut, das aus seiner Nase rann. Gerade wollte er sich auf mich
stürzen, da trat ich ihm zwischen die Beine. Das war ein Volltreffer! Er saß
mitten im Bus auf seinem Hosenboden und schaute ziemlich bedröppelt
drein.
Ja,
ich weiß, das ist nicht die feine englische Art. Aber am besten kann man sich
mit jemandem in der Sprache unterhalten, die er versteht.
Der
Bus wurde langsamer, die nächste Haltestelle war erreicht. Der Mülleimer
rappelte sich auf und war im Begriff, seine verbalen Attacken in Taten
umzusetzen. Da griffen von hinten zwei Arme zu, packten den Mülleimer
und stießen ihn durch die sich öffnende Tür aus dem Bus. Er fiel der
Länge nach hin, und als er sich wieder erhob und in den Bus zurück
wollte, schloß sich die Tür und der Bus fuhr ab. Ich war überrascht.
Mit dieser Wendung des Falles konnte ich nicht rechnen. Eine Stimme, die
zu den beiden Armen gehörte, sagte: "Das wird doch wirklich immer
schlimmer mit dem Pack!"
Wir
schauten uns an und verstanden uns ohne weitere Worte. Schweigend fuhren
wir zum Chlodwigplatz.
Es
wurde noch ein schöner Stammtischabend, an dem wir viel über den Vorfall und
über die Menschen im Allgemeinen redeten. Dabei kamen wir zu dem Schluss, dass viele in
unserem Bekanntenkreis, die bisher als "liberal" angesehen wurden,
langsam einen dicken Hals bekommen. Schön, wenn dadurch die Schreihälse und
geistigen Tiefflieger in Schach gehalten werden!
Um
der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich allerdings gestehen, dass es sich nicht
ganz so zugetragen hat wie oben beschrieben. Wahr ist, dass ich nach der
scharfen Rechtskurve ruhig auf meinen Platz gegangen bin, während der Mülleimer
sich neben seine Begleiterin setzte und lauthals fortfuhr, alle möglichen
Leute, die er auch beim Namen nannte, verbal zu verprügeln. Ein armer Wicht!
Betretenes Schweigen ringsherum. Jeder war mit sich beschäftigt.