Es
war so ungefähr 1974. Genau kann ich das nicht mehr nachhalten, aber es ist
schon eine Weile her. Ich war damals beim
Postamt Köln 1 beschäftigt. Heute gibt es keine Postämter mehr und ich bin
schon einige Zeit im Ruhestand.
Arbeitslose
hat es immer schon gegeben. Das ist keine Erfindung der Regierung Kohl – noch
nicht einmal das! Auch mein Vetter war damals arbeitslos. Und wer
arbeitslos war, durfte nur nach Abmeldung beim Arbeitsamt in Urlaub fahren. Dann
bekam er auch weniger Geld. So hart waren damals die Bräuche. Nun, mein Vetter
wollte in Urlaub fahren, ohne deswegen weniger Geld zu bekommen. Wozu hat man
auch einen Verwandten, der an entscheidender Stelle helfen konnte? Dieser
Verwandte war ich.
Es gelang mir, unter
Umgehung sämtlicher Bestimmungen das Arbeitslosengeld für meinen Vetter
einzusammeln. Man könnte das als "Klüngeln" bezeichnen, denn Niemand ist zu
Schaden gekommen, aber alle Beteiligten konnten uneigennützig helfen. (Über "Klüngeln" habe
ich mich an anderer Stelle ausgelassen.)
Insgesamt sind in der
Urlaubszeit so an die 1.000.- DM zusammengekommen. Eine Menge Geld, nicht nur
damals. Sofort nach der Rückkehr aus dem Urlaub trat Wolfgang eine neue Stelle
als Buffetier in einer neueröffneten Gaststätte an. Am Eröffnungstag
waren wir verabredet. Die Einladung zur Eröffnung als Gegenleistung zur
Auszahlung des Geldbetrages. Soweit, so gut.
Es
war ein warmer Sommertag und ich hatte keine Lust. Keine Lust zu nichts. Ganz
besonders ging mir die Lust ab, mich zu stylen. Am liebsten wäre ich in kurzer
Hose und Buschhemd zur Gaststätteneröffnung gefahren. Da aber war Gitta, was
meine Gattin ist, vor. Sie nötigte mir eine lange Hose und ein offenes Hemd ab.
Das war die Mindestausstattung. Dafür musste ich ihr versprechen, falls die Gäste
in Robe auftraten, den Laden nicht zu betreten. Mit dieser Vereinbarung fuhren
wir nach zum verabredeten Ort.
Als
wir dort ankamen, ging Gitta zum Lokal, um die Garderobe der übrigen Gäste zu
inspizieren. Sie kam zurück und signalisierte mir, dass ich in meinem Outfit
nicht auffiel. Raus aus dem Auto, Tür zu und ab ins Lokal. Tja, es wäre so schön
gewesen....
Unser
damaliges Auto war ein VW Käfer, hellblau und wunderschön. Ein entscheidender
Umstand war nur, dass man die Zündschlüssel stecken lassen und die Türe
zuknallen konnte - und dann stand man draußen: Die Türe versperrt und die
Wagenschlüssel
in unerreichbarer Ferne.
Aber
mein Vetter, der ehemalige Arbeitslose, hatte schließlich auch ein Auto. Und was für eines:
Einen BMW 2002 tii! Ein Traum von einem Auto. Also, rein in den Laden und
nach den Autoschlüsseln gefragt. Kein Problem!
Stolz wie Oskar fuhr ich in einem BMW 2002 tii nach Hause, um
meine Ersatzschlüssel zu holen. Das Leben konnte so schön sein!
Als ich wieder zurück zum BMW kam, wollte kein Schlüssel ins Schlüsselloch
passen. Das gibt es doch gar nicht! Verdammt, vorhin hatte doch einer gepasst.
Um beide Hände frei zu haben, legte ich meine Handgelenktasche auf das
Wagendach. Na also, geht doch! Mit etwas gutem Willen lässt sich jede Tür
aufsperren! Jetzt aber schnell zurück. Motor anlassen und den Rückwärtsgang
suchen war ein Vorgang. Wie, Rückwärtsgang suchen? Doch! Denn dort, wo ich
glaubte, dass er sein müsste, war er nicht. Also, Kupplung treten und mit dem
Schalthebel im Getriebe herumrühren. Ich fühlte den Zorn in mir aufsteigen und
wie die Hitze die Autoscheiben von innen beschlagen ließ. Ich saß in einer
Dunstwolke aus Wut, Frust und Schweiß und wusste nicht, wie ich diesen
verdammten Rückwärtsgang reinhauen sollte. Inzwischen war es längst nach
20.00 Uhr geworden. Eine Zeit, zu der wir mit anderen netten Menschen gemeinsam
etwas essen und trinken wollten. Eröffnungsfeier eben. Stattdessen saß ich im
BMW und suchte wie verblödet nach dem albernen Rückwärtsgang!
Da, endlich machte es „klack“ und der Wagen rollte rückwärts aus dem Wendehammer
vor unserer Haustüre. Fenster auf, damit der Dunst raus konnte und dann aber
hurtig dorthin, wohin der Wagen gehörte.
Dort
angekommen, stellte ich den Wagen auf den Parkplatz, öffnete die Tür und griff
neben mich auf die Beifahrerseite – ins Leere. Dort, wo ich meine
Handgelenktasche vermutete, war – nichts! Wo zum Teufel.....! Dann fiel es mir
wie Schuppen aus den Haaren. Ich hatte doch die Tasche auf das Dach gelegt, als
ich die Tür nicht aufbekam. Himmel, wie blöde kann ein einzelner Mensch sein?
Jetzt aber nicht lange in die Gaststätte sondern schnellstens wieder nach
Hause.
Im
Wendehammer, wo sich das Drama abgespielt hatte, war natürlich nichts. An was
hatte ich mich eigentlich geklammert? Auch die ganze Straße hinunter war nichts
zu finden. Also, die Tasche war weg. Und mit ihr die rund 1.000.- DM Arbeitslosengeld, mein eigenes Portemonnaie mit unserem Geld sowie alle meine
Papiere. Herzlichen Glückwunsch! Ich ging nach Hause, setzte mich in die Küche
und öffnete eine Flasche Whisky.
Nach
einiger Zeit und einigen Gläschen klingelte das Telefon. Es war Gitta, die
besorgt fragte, wo ich denn bliebe. Ich stotterte eine Erklärung zusammen und
schon war sie auf dem Weg nach Hause. Ich ging zurück zu meinem Whisky. Er half
mir zwar nicht über meinen Kummer hinweg, aber ich bildete es mir ein. Außerdem
habe ich das schon so oft im Kino gesehen. Da musste doch etwas dran sein. Komm,
noch ein Gläschen!
Das
Telefon klingelte wieder. Diesmal war jemand Fremdes dran. Schon die erste Frage
riss mich aus der Lethargie. Da war jemand, der meine Tasche mit dem gesamten
Inhalt gefunden hatte! Obwohl es inzwischen bereits nach 22.00 Uhr war, konnte
mich nichts zum Warten bis zum nächsten Morgen bringen. Ich hatte doch auch
noch Schulden zu begleichen. Also empfing man mich noch zu dieser unbotmäßigen
Zeit. Es war gleich um die Ecke.
Die
Finder waren nette, junge Leute, die zwei nette, kleine Söhnchen hatten. Natürlich
war die gesamte Familie zugegen, als ich – inzwischen schon mit etwas schwerer
Zunge – den Hergang schilderte. Man lächelte milde. Ja, die Tasche hatten sie
gleich auf der Kreuzung gefunden. Sie sind mit ihrem Auto darüber gefahren,
sonst hätten sie es wohl nicht gemerkt.
„Kommen
Sie, auf den Schrecken müssen Sie aber noch einen Cognac trinken.“ Nun, auf
den kam es auch nicht mehr an. Und weil die beiden netten Söhnchen auf ein
Fahrrad sparten – selbstverständlich jeder für sich – packte ich ins
wiedergefundene Portemonnaie und steckte jedem Bübchen 100.- DM in die
Spardose. Na, das war das wenigste, was ich tun konnte. Danach verabschiedete
ich mich – ich musste ja noch einmal zu meinem Vetter.
In
Sichtweite unseres Hauses erkannte ich meine Frau auf unserem Balkon. Daneben
stand unsere Nachbarin. Na klar, da meine Frau keinen Wohnungsschlüssel hatte,
musste die Nachbarin aufsperren. Fröhlich schwenkte ich die soeben abgeholte
Tasche und meine Frau bekam fröhlich einen Zusammenbruch!
Nach
Wiederherstellung des Gemütszustandes meiner Frau und Einnahme eines Absackers
– ein Gläschen hatte ich mir doch noch verdient, oder? – ging es dann zum
schuldigen Objekt, dem BMW. Ich hatte bereits einige Lämpchen an und wollte
nicht mehr fahren. Also, musste Gitta ran. Nun ist es so, dass Gitta ca. 165 cm
hoch ist, der Vetter aber fast 2 Meter misst. Daraus ergibt sich eine Diskrepanz
von einigen Dezimetern – und zwar, was die Beinlänge und die Erreichbarkeit
der Pedale im Fahrzeug angeht. Na ja, Sitze lassen sich verschieben. Meistens.
Dieser Fahrersitz aber nicht! Ich konnte ruckeln, schieben und fluchen, es
passierte nichts. Der Sitz saß fest, wie angeschweißt. Mit Kennerblick stellte
ich dann fest: „Sportsitze, die sind angeschraubt. Da kannst Du nichts machen.
Ich werde wohl selber fahren müssen!“
Gesagt,
getan. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass alle Utensilien einschließlich
meiner Frau im Wagen verstaut waren, bewegte ich das Fahrzeug vorsichtig die
Straße hinunter. Auch der Rückwärtsgang machte keine Zicken mehr, es lief wie
geschmiert. An der nächsten Ampel nach rechts abgebogen, sah ich, dass die
Kontrolllampe für die Tankanzeige mich unfreundlich anleuchtete. Auch das noch.
Heute ist nicht mein Tag! „Ich tanke aber nur für 5.- Mark. Das sehe ich
nicht ein,“ sagte ich in Richtung meiner Gattin und bog auf eine Tankstelle
ab. Ich war noch mit einem Fuß im Wagen als neben mir eine Stimme ertönte:
„Guten Abend, kann ich einmal Ihre Papiere sehen?“
Die grünen Funken! Oh, verdammt. Und gleich zwei Mann hoch. Weltmeisterlich
antwortete ich: „Natürlich. Nur nicht von diesem Wagen, sondern von meinem Auto.
Und das steht im Süden Kölns!“
"Haben
Sie etwas getrunken?“ Diese Frage traf mich wie ein Keulenschlag. Was jetzt?
„Nein“, hörte ich mich antworten und konnte nichts dagegen tun.
„Sind
Sie damit einverstanden, wenn wir einen Alkoholtest machen?“ Natürlich war
ich einverstanden. Alles andere wäre jetzt auch nur albern gewesen. So blies
ich denn „langsam und gleichmäßig“ ins Röhrchen. Und ebenso „langsam
und gleichmäßig“ verfärbte sich das Röhrchen von durchsichtig nach grün.
Oh, Mist!
„Also,
was haben Sie getrunken?“ fragte mich der nur halb so böse wie der andere
aussehende Polizist. Nach kurzem Überlegen gab ich ein Glas Whisky freiwillig
zu. Gitta bekam im Auto ihren zweiten mittelschweren Zusammenbruch. „Du weißt
doch, wie das mit Beamten ist. Jetzt kriegst Du auch noch eine
Disziplinarstrafe!“ Ihre Stimme war kurz vor dem Kippen. Ich war so allein!
„Sie
sind Beamter?“ fragte mich der Freundliche. „Ja, bei der Post“, antwortete
ich automatisch. Jetzt war es sowieso egal. Nichts half mehr, da musste ich
jetzt durch. Ich erklärte, wie es zu meinem Zustand gekommen ist. Der
uniformierte Mensch sah mich durchdringend an, brummelte etwas in seinen nicht
vorhandenen Bart und warf das grüngeblasene Röhrchen in den Rinnstein.
„Ja,
aber wir gehen nicht an der Tatsache vorbei, dass das Röhrchen grün ist“,
bemerkte der zweite Polizist zwar richtig, aber völlig überflüssigerweise.
Den hatte ich ganz vergessen. Und jetzt? Er bückte sich und hob das Röhrchen
wieder auf. Triumphierend schwenkte er das Röhrchen vor meinen Augen hin und
her. Ich saß in der Falle. Führerschein futsch, Geldstrafe, Disziplinarmaßnahme
– ich zuckte innerlich zusammen. Das konnte hart werden!
„Lassen
Sie Ihre Frau fahren“, machte sich der Freundliche wieder bemerkbar, nahm
seinem verdutzten Kollegen das Corpus delicti aus der Hand, warf es zu Boden und
zertrat es. Der Beweis war futsch! Ich war wieder unschuldig. Es kam so etwas
wie Hoffnung auf. Zart noch, aber immerhin.
„Ich
hätte meine Frau ja fahren lassen,“ sagte ich zerknirscht. „Leider kann ich
den Fahrersitz nicht in die richtige Position bringen. Meine Frau ist zu klein
und kann die Pedale nicht erreichen.“
Ich
konnte es kaum fassen, aber die beiden Polizisten kletterten in den Wagen und
werkelten solange am Fahrersitz herum, bis er ganz nach vorne gerutscht war.
Meine Frau setzte sich und fand die Pedale nicht. Immer noch zu weit weg. Im
Kofferraum lag eine Aktentasche, die der Veränderung der Sitzposition diente.
Jetzt klappte es.
„Lassen
Sie Ihre Frau fahren“, wiederholte der Polizist. Ich versprach es hoch und
heilig und fragte dann, ob ich durch verkehrsuntüchtiges Verhalten aufgefallen
sei. Schließlich hätten die beiden gleich hinter mir an der Tankstelle
gestanden. Die Antwort ließ Gedanken in mir hochsteigen, die in Mord an
meinem Vetter endeten: „Nein, an Ihrer Fahrweise hatten wir nichts auszusetzen. Ihr
rechtes Rücklicht brennt nicht!“
Die
beiden Grünen verabschiedeten sich und fuhren ca. 100 Meter weg. Dort wendeten
sie und beobachteten, was ich machte. Ich bekam den Tankdeckel nicht auf! Es
dauerte bestimmt zehn Minuten, bis ich die alberne Öffnung tankbereit hatte.
Wie gesagt: 5 Mark und keinen Pfennig mehr. Dann bestiegen wir das Fahrzeug und
meine Frau fuhr mich zum Zielort, während die beiden Polizisten auch fuhren,
nämlich weg.
Es
war um Mitternacht, als wir in die Gaststätte kamen. Ich ging zu meinem Vetter, gab
ihm seine 1.000.- DM, wünschte eine gute Nacht – und dann fuhren wir mit
unserem Käfer nach Hause. Gitta und ich waren der gleichen Meinung: Es war ein
Scheißabend! Außer Spesen nichts gewesen. Zu Hause angekommen, sind wir sofort
ins Bett gegangen und dort tief und fest eingeschlafen.
In
diesem ganzen Zusammenhang ist es eher nebensächlich, dass Gitta sich für ihre
Fahrt nach Hause das Taxigeld leihen musste, weil sich von unseren Freunden
niemand in der Lage sah, sie dorthin zu bringen. Schließlich wollte man ja die
Eröffnung eines Lokals feiern. Auf solche Freunde können wir gut verzichten.
Wir haben bis heute niemanden davon wiedergesehen.
Auf
die Polizei hingegen lasse ich fast nichts kommen. Natürlich wäre das heute
nicht mehr möglich, was die beiden an der Tankstelle „veranstaltet“ haben.
Aber vergessen werde ich ihnen das nie, auch wenn ich ihre Namen nicht kenne.
Und
mein Vetter? Der ist viel zu jung und ganz plötzlich 1996 verstorben. Immer
wieder muss ich an ihn denken, und dann fällt mir auch diese Geschichte wieder
ein.